Weltlesebühne e.V.
Vitalität der Verzweiflung. Übersetzen aus dem Russischen heute

Die Übersetzerinnen Gabriele Leupold und Olga Radetzkaja über ihre Arbeit an Texten von Andrej Platonow, Warlam Schalamow und Maria Stepanova.

Moderation: Hans-Ulrich Möhring

Literatur trägt oft den Kampf mit den Verhältnissen aus, unter denen sie entsteht, und für die russische Literatur gilt das – nicht erst seit heute – im besonderen Maße. Im Fall von Warlam Schalamow (1907-1982), der viele Jahre in den Straflagern des nordöstlichen Sibirien verbrachte, ist zu sehen, wie die umgebende Gewalt in sein Schreiben eindringt; die Übersetzung muss die Verarmung der Sprache mitmachen, die der Mensch bei Hunger, Kälte, Schlafentzug und schwerer physischer Arbeit erlebt.
Andrej Platonow (1899-1951) wurde unter Stalin als Volksfeind angegriffen, seine Werke konnten zum Teil erst viele Jahre nach seinem Tod erscheinen. Wenn er die Kollektivierung der Landwirtschaft darstellt, ist die Figurensprache ein Mix aus dem alten bäuerlichen Idiom und dem neuen „Revolutionsjargon“, der in all seiner Zwiespältigkeit ins Deutsche zu bringen ist.
In den Gedichtzyklen „Der Körper kehrt wieder“ und „Mädchen ohne Kleider“ von Maria Stepanova (geb. 1972) kriecht der Krieg direkt in die Worte hinein, ein Sprechen in fremden Stimmen entsteht, die Selbstverständlichkeit der Sprache geht verloren, und die Übersetzerin muss oft weite Wege gehen, um auch im Deutschen die Bruchstücke miteinander zum Klingen zu bringen.In allen drei Fällen scheint der Sprache gerade unter extremen Belastungen eine besondere Vitalität zuzuwachsen. Vitalität der Verzweiflung? Für Stepanova und ihre ganze Generation sind Krieg und Exil, aus der russischen Geschichte gut bekannt, wieder bestimmende Faktoren der Gegenwart geworden. Wie reagiert die Literatur heute darauf – und wie reagieren wir, die wir russische Literatur übersetzen?

Gabriele Leupold und Olga Radetzkaja stellen an diesem Abend die drei Autoren exemplarisch vor und lesen aus ihren Werken.

Olga Radetzkaja © Sebastian Bolesch
Olga Radetzkaja © Sebastian Bolesch

Olga Radetzkaja, geboren in Amberg, studierte Slavistik und Komparatistik; sie übersetzt Literatur überwiegend aus dem Russischen. Zu ihren Autoren gehören u.a. Viktor Schklowski, Boris Poplawski, Maria Stepanova und Polina Barskova. 2019 wurde sie mit dem Straelener Übersetzerpreis ausgezeichnet, 2020 mit dem Brücke Berlin Preis. Neben ihrer übersetzerischen Tätigkeit arbeitet sie als Redakteurin bei der Zeitschrift OSTEUROPA. Sie lebt in Berlin.

Gabriele Leupold © Sergej Winter
Gabriele Leupold © Sergej Winter

Gabriele Leupold studierte Russische und Deutsche Philologie in Mainz, Göttingen, Konstanz und Moskau. Sie übersetzt Literatur aus dem Russischen, u. a. Vladimir Sorokin, Andrej Belyj, Warlam Schalamow, Andrej Platonow, und veranstaltet Seminare und Workshops für Übersetzer und Studierende. Sie ist Koautorin der Videodokumentation Spurwechsel. Ein Film vom Übersetzen (2003) und im Vorstand der Übersetzervereinigung Weltlesebühne e.V. 2018/19 war sie August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessorin für Poetik der Übersetzung an der FU Berlin.

Hans-Ulrich Möhring übersetzt aus dem Englischen und schreibt Bücher. Er lebt in Niederkleveez.

Eine Veranstaltung der Weltlesebühne e.V. in Zusammenarbeit mit Kulturverein Seeweg Gut Wittmoldt e.V. Gefördert vom Deutschen Übersetzerfonds e. V.

Wittmoldt
1. September 2022 | 19:00 Uhr
Veranstaltungsort

Hof 1, 24306 Gut Wittmoldt

Eintritt

mit Imbiss 15€, nur Abendkasse