Weltlesebühne e.V.
default image
Mandarine, Mao und das moderne China – zwei Romane, drei Sprachen

Mit Claudia Feldmann und Susanne Höbel

Moderation: Annette Kopetzki

Die beiden Übersetzerinnen lesen aus ihren Übersetzungen von Chiew-Siah Tei (»Der Pavillon der Springenden Fische«) und Ma Jian (»Peking Koma«). China hat in den letzten 150 Jahren dramatische Veränderungen erlebt. Chiew Siah Tei und Ma Jian schildern diese wechselvolle Geschichte als langsame Annäherung an die Moderne einerseits, als Zeugnis der Studentenbewegung von 1989 mit Rückblick auf die Kulturrevolution andererseits. Beide Autoren leben in Großbritannien, ihre Romane erschienen auf Englisch. Wie schlägt sich die Fremdheit der chinesischen Kultur in anderen Sprachen nieder? Was bedeutet der Umweg über das Englische für die Übersetzung ins Deutsche? Darüber sprechen die Übersetzerinnen Claudia Feldmann und Susanne Höbel mit Moderatorin Annette Kopetzki.

Chiew-Siah Tei: „Der Pavillon der Springenden Fische“, Droemer 2009.

China, Ende des 19. Jahrhunderts. Mingzhi, ältester Sohn der wohlhabenden Landbesitzer-Familie Chai, soll nach dem Willen seines Großvaters Mandarin werden. Der Junge ist intelligent und begabt, und so lernt er fleißig, absolviert erfolgreich die verschiedenen Beamtenprüfungen und schafft es in der Tat, einen Posten als Mandarin einer kleinen Stadt zu bekommen. Doch sein Ziel, ein guter und gerechter Mandarin für sein Volk zu sein, wird immer wieder auf die Probe gestellt – durch das Misstrauen der Menschen, die bisher nur ausgebeutet worden sind, durch die Gier und Bestechlichkeit seiner Amtskollegen und Vorgesetzten und durch die politischen und wirtschaftlichen Missstände im Land, gegen die er allein wenig ausrichten kann.

Auf privater Ebene kommt er in einen Loyalitätskonflikt mit seinem Vater und Großvater, die vom Reisanbau auf Opium umstellen, um ihren Reichtum zu erhöhen. Mingzhi missbilligt das zutiefst, zumal sein Vater bereits seit Jahren opiumsüchtig ist, aber er ist traditionell erzogen und wagt es nicht, dagegen aufzubegehren. Während seines Studiums lernt er einen englischen Missionar und einen jungen englischen Geschäftsmann kennen, und obwohl er aufgrund seiner Erziehung die „fremden Teufel“ eigentlich verachten und meiden müsste, freundet er sich bald mit ihnen an, lernt ihre Sprache und lässt sich von ihnen in die wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften des Westens einführen.
Bei aller Begeisterung für diese spannende fremde Welt muss er jedoch erkennen, dass der Westen – wie auch Japan und Russland – eine Gefahr für sein China bedeutet, das sich so beharrlich gegen Öffnung und Erneuerung sperrt. Und so muss Mingzhi sich eines Tages entscheiden zwischen den Traditionen, die ihm einerseits vertraut sind und Halt geben, andererseits aber auch oft unmenschlich und grausam erscheinen, und dem Aufbruch in eine neue, ungewisse Zukunft.

Die Autorin: Aufgewachsen als Tochter chinesischer Einwanderer in Malaysia, lebt Chiew-Siah Tei heute in Glasgow. Sie schreibt auf Chinesisch und auf Englisch und wurde bereits international für ihre Lyrik, chinesische Prosa und Kurzfilme ausgezeichnet. „Der Pavillon der springenden Fische“ wurde für den renommierten Man Asian Literary Prize 2007 nominiert.

Die Übersetzerin: Claudia Feldmann, Jahrgang 1966, studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf und übersetzt seit über zehn Jahren aus dem Englischen und Französischen. Unter anderem hat sie Eoin Colfer, Reggie Nadelson, Bernard Werber, Tama Janowitz und Ewan Morrison ins Deutsche übertragen.

Ma Jian, „Peking Koma“, Rowohlt 2009.

Juni 1989. Auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking versammeln sich Tausende von Studenten, um für Freiheit und Demokratie zu demonstrieren. Unter ihnen Dai Wei, Doktorand der Molekularbiologie und dreiundzwanzig Jahre alt. Am Abend des 4. Juni rückt das Militär auf den Platz, es fallen Schüsse, Dai Wei wird getroffen.
Als er wieder zu sich kommt, befindet er sich nach einem Kopfschuss im Wachkoma. Da dem politisch Unzuverlässigen die weitere medizinische Behandlung verweigert wird, pflegt seine Mutter ihn zu Hause, ohne zu merken, dass ihr Sohn die Welt um sich herum bei vollem Bewusstsein wahrnimmt.
In den Jahren bis zum Beginn des neuen Jahrtausends – da endet der Roman – wird Dai Wei auf diese Weise stummer Zeuge der Verwandlung Chinas in einen modernen Staat, der sich vorsichtig dem Kapitalismus öffnet, eine demokratische Entwicklung aber verweigert. Auf seinem Krankenlager, unfähig sich zu rühren, lässt Dai Wei die Studentenbewegung und die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens von 1989 in seiner Erinnerung Revue passieren, auch schweift er weiter zurück zur Kulturrevolution mit ihren Grausamkeiten und ihrer Zerstörung von Kultur und Gesellschaft, von Menschen und Familien. „Noch nie wurde die jüngste Geschichte Chinas so ungeschminkt beschrieben … in einer Sprache, in der sich Bitterkeit und melancholische Poesie mischen.“

Der Autor: Ma Jian wurde 1953 in Qingdao, China, geboren. Nach dem Studium arbeitete er zunächst als Fotojournalist. Die Eindrücke von einer dreijährigen Reise durch China verarbeitete er in dem Reisebericht Red Dust. Um der Staatszensur zu entgehen, zog er 1987 nach Hongkong, reiste aber 1989 wieder nach China, um die Studentenbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens zu unterstützen. Heute lebt er im Londoner Exil und ist mit Flora Drews, seiner englischen Übersetzerin verheiratet.

Die Übersetzerin: Susanne Höbel, 1953 in Essen geboren, mehrjähriger Aufenthalt in England ab 1972, Studium an der University of Birmingham, danach Fremdsprachenlehrerin in Berlin und Freiburg, seit 1989 freiberufliche literarische Übersetzerin, seit 1999 wohnhaft in Hamburg, seit 2003 zeitweilig in Südengland. Übersetzerin von Nadine Gordimer, Helene Hanff, John Updike, Ma Jian, Marian Keyes, Mit-Übersetzerin von Nicholson Baker, William Faulkner, John Updike.

Die Moderatorin: Annette Kopetzki studierte in Hamburg Germanistik und Philosophie und promovierte über Probleme der literarischen Übersetzung. Sie lebte lange in Italien, wo sie als Universitätslektorin für deutsche Literatur, als Übersetzerin und Publizistin arbeitete. Seit über 20 Jahren übersetzt sie Belletristik, Lyrik und Sachbücher aus dem Italienischen. Zu den von ihr übersetzen Autoren gehören P.P. Pasolini, Norberto Bobbio, Erri de Luca, Laura Pariani, Giuseppe Bonaviri, Cesare Cases und Alessandro Baricco.

Frankfurt am Main
16. Oktober 2009 | 13:15 Uhr
Veranstaltungsort

Übersetzerzentrum der Frankfurter Buchmesse

Eintritt

frei